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Foto: Martin Kraft / Wikimedia (CC BY-SA 3.0)

Leere statt Lehre: Was uns COVID-19 über das Bildungssystem lehren sollte

Leere Schulen, kein Unterricht, unzureichender digitaler Ersatz: Covid-19 ist eine große Herausforderung für das Bildungssystem. Es ist Zeit für eine Reform.

Letzte Woche Freitag, 20 Minuten vor Unterrichtsschluss. Eine Durchsage des Schulleiters: “Nehmt Eure Bücher schon mal mit nach Hause im Falle einer Schulschließung. Wir wissen selber noch nichts offizielles, aber bereitet Euch schon mal vor, falls es so kommen sollte”. Der weitere Verlauf: Mail 1, Mail 2, Korrektur 1, Mail 3. Wartungsarbeiten beim Schulserver, ‘Sorry, es können im Moment keine Mails abgerufen werden’. Lehrer*innen müssen sich darauf einstellen, Unterrichtsinhalte jetzt digital (Hört, hört!) zur Verfügung zu stellen – vermutlich immer noch Neuland für die Generation Overhead-Projektor aus der Kreidezeit.

Anja Karliczeks Digitalpakt, er kommt zu spät und zu kurz; zu eingebürgert war in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten der Mehltau der Vergangenheit im deutschen Bildungssystem – beziehungsweise den 16 verschiedenen Systemen, die sich Deutschland leistet, aber zu Föderalismus, seinen Möglichkeiten und Grenzen ist bereits viel gesagt. Viel wichtiger ist die gesellschaftliche Verbreitung der angeblichen Digital-Epidemie, gegen die das deutsche Schulsystem multiresistent zu sein scheint.

Wer weiß denn sowas?

Als Schüler*in, aber auch als Lehrer*in im Schul-Alltag stellt sich jedes Mal neu die Frage: Weiß die Regierung überhaupt, abgesehen von Stock-Fotos von Klassenräumen aus der Zeitung, wie die Schulen im Moment aussehen? Es ist kein Geheimnis, dass selbst Lehrer*innen, die modernen, digitalen Unterricht anbieten möchten, kläglich daran scheitern, dass es keine Beamer gibt, diese kaputt oder geklaut sind – es fehle an Geld für Reparaturen oder Neuanschaffungen. Ein funktionierendes WLAN ist in weiter Ferne. Außerdem gibt’s ja noch den guten alten OHP, wieso sollten wir diesen neuen Schnickschnack dann überhaupt verwenden

Jetzt, in diesen ungewöhnlichen Zeiten von COVID-19, von physical distancing und allgemeinem Hamsterkauf, erreicht die Digitalresistenz des Bildungssystems ein neues Level, wenn plötzlich digitale Praxis gefordert wird. Moodle, deren Zugangsdaten die Hälfte der Schüler*innen nicht kennen, eingestaubte digitale Server, die in den 80ern vielleicht noch als “hip” durchgegangen wären, oder schlampig programmierte neuere Alternativen, wie zum Beispiel das Bildungsportal aus Bayern, das am Montagmorgen eine Überlastungs-Meldung anzeigte und somit die Schüler*innen erfolgreich von der Nutzung der hochmodernen Infrastruktur abhielt. Das alles ist nicht das Wahre, um flächendeckende Versorgung im Bildungsbereich wirklich sicherstellen zu können. Die größten Opfer sind hierbei die angehenden Abiturientien, die nicht nur ihres allgemeinen Besäufnisses, sondern auch der kritischen Lernphase vor dem Abitur beraubt wurden – was dabei rauskommt, bleibt abzuwarten.

Was tun, sprach Zeus

Ehrlicherweise muss gesagt werden, dass mancherorts die Schulen mit Problemen zu kämpfen haben, die fehlende Digitalisierung tatsächlich wie luxuriösen Schnickschnack aussehen lassen. Ein Besuch im Schulausschuss des Landes NRW lieferte erschreckende Erfahrungsberichte aus Duisburg: Mangels sanitärer Einrichtungen wurde der Absatz unter einer Treppe vorschnell zum Ort der Fäkalabladung umfunktioniert, entsprechend das olfaktorische Klima.

Nichtsdestotrotz ist das kaputt gesparte Bildungssystem in der sogenannten Bildungsrepublik nicht plötzlich gut, wenn aufgehört wird, Brennpunktschulen wie in Duisburg sich selbst und damit dem Verfall zu  überlassen – im Gegenteil, gerade für Menschen aus Brennpunkten kann und muss auch digitalisierte Bildung, die bisher in der Regel privilegierten Oberschichtschulen vorbehalten ist, ein entscheidender Faktor des sozialen Aufstiegs sein.

COVID-19 zeigt unmissverständlich, wie anfällig diese angeblich digitalisierten Systeme im Ernstfall sein können, vor allem diejenigen, die schulische Bildung per Internet in die eigenen vier Wände transportieren sollen. Hier besteht massiver Handlungsbedarf – und eine Chance auf modernen, digitalisierten Unterricht, der im Sinne gesellschaftlicher Flexibilität bei Bedarf auch (teilweise) von und für Zuhause erteilt werden kann.

Philipp Schröder

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Grüße aus dem Flammenmeer

Ob Klimapolitik, Kapitalismus oder Kriegstreiberei – viel Stoff für die Kolumne von Philipp Schröder und Paul Oppermann. Über die Themen, die sie gerade bewegen, schreiben die beiden Schüler in dieser Kolumnenreihe auf ostviertel.ms