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Häusliche Gewalt und die Last der Beweispflicht

In einem Artikel vom 22. November[1] berichten die Westfälischen Nachrichten über einen Fall häuslicher Gewalt in Münster Nord: Eine junge Frau hat demnach im August ihren Ex-Partner angezeigt, nachdem dieser sie verbal und physisch attackiert hatte. Der Fall wurde von der Polizei als „häusliche Gewalt“ mit Wiederholungsgefahr aufgenommen. Mitte November wurde das Verfahren aus verschiedenen Gründen von der Staatsanwaltschaft Münster eingestellt. Die junge Frau und ihre Mutter reagierten mit Fassungslosigkeit. Ist dieser Fall anzusehen als eine justizielle Manifestation struktureller Diskriminierung gegen Frauen?

Was zu dem Fall bekannt ist

Die Staatsanwaltschaft Münster hat zu den Hintergründen des Falles und zur Beweisführung keine öffentliche Stellungnahme abgegeben. Die WN zitiert aber aus dem Einstellungsbescheid, wonach es sich „um eine im unteren Unrechtsbereich liegende typische Beziehungstat“ handle. „Spannungen und Streitigkeiten nach Auflösung von Partnerschaftsbeziehungen“ seien hierbei als „typisch und Bestandteil des Auflösungsprozesses“ anzusehen. Ein umsichtigeres Verhalten auf Seiten beider Beteiligter hätte einer Eskalation dieser Art vorgebeugt. Der Fall habe zudem nicht ausreichend im öffentlichen Interesse gelegen, um zu einer Anklage seitens der Staatsanwaltschaft Münsters zu führen. Dem Artikel zufolge sei der Mann wegen vorsätzlicher einfacher Körperverletzung angezeigt worden und das Amtsgericht habe ein Annäherungsverbot für sechs Monate verhängt. Wie lässt sich dieser Fall nun einordnen?

Häusliche Gewalt gegen Frauen in Deutschland

Unverkennbar ist die aktuelle Brisanz von Fällen häuslicher Gewalt gegen Frauen in Deutschland. So hat jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben häusliche Gewalt erfahren, über die Hälfte der Betroffenen wurden hierbei von ihrem (Ex-)Partner bedroht. Die Kriminalstatistik zeichnet ein düsteres Bild: Täglich versucht ein Mann in Deutschland, seine (Ex-)Partnerin zu töten. An jedem dritten Tag wird ein solches Verbrechen tatsächlich vollendet. Häusliche Gewalt ist keine Randerscheinung, vielmehr ein Phänomen, dass in allen sozioökonomischen und Bildungsschichten sowie in allen Alters- und Gesellschaftsgruppen vorkommt. Unabhängig von Bildungsstand, Nationalität oder Einkommen der beteiligten Personen kann häusliche Gewalt jeden treffen.

Die Problematik von Gewalt im häuslichen Umfeld wird verstärkt durch eine geringe Anzeigebereitschaft, welche insbesondere auf die Angst der betroffenen Frauen vor weiteren Gewaltausschweifungen, die psychische Belastung (durch die Einleitung) eines Strafverfahrens – auch für eventuelle gemeinsame Kinder – und auf eine finanzielle und/oder aufenthaltsrechtliche Abhängigkeit vom Partner zurückzuführen ist. Auch kulturelle Gründe und sprachliche Barrieren vereiteln nicht selten den Weg zur Anzeige.

Ein weiteres Problem bildet die Tatsache, dass für häusliche Gewaltdelikte oftmals unbeteiligte Zeug*innen fehlen. Somit steht am Ende Aussage gegen Aussage. Und womöglich wird die befundene Unschuld des Mannes als Falschbeschuldigung durch die betroffene Frau umgedeutet – ein zweiter Schlag für die Opfer von häuslicher Gewalt und möglich, dass dies auch für den vorliegenden Fall zutrifft.

Im Zweifel für den Angeklagten

Der Schwierigkeit für Opfer häuslicher Gewalt, der Beweispflicht Genüge zu tun, steht der unumstößliche Grundsatz „in dubio pro reo“ (lat. „Im Zweifel für den Angeklagten“) gegenüber. Diese sogenannte Unschuldsvermutung bildet ein hohes Gut im deutschen Rechtssystem. Sie schützt Bundesbürger*innen davor, vor Beweis ihrer Schuld als schuldig behandelt zu werden. Es ist ein verfassungsrechtlicher Grundsatz im Strafrecht und Bestandteil der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Während der Schutz der körperlichen Unversehrtheit ein Grundrecht bildet, gilt dies auch für die Schuldfreiheit bis zum Beweis der Schuld. Der Rechtsgrundsatz der Unschuldsvermutung ist mitunter eine Lehre aus der Zeit der Hexenverfolgungen, als die Verbrennung von mit Hexerei in Zusammenhang gebrachten Personen ohne einen tatsächlichen Schuldbeweis erfolgte. Heute können wir auf ein bei weitem gesicherteres Rechtssystem vertrauen. Doch auch bei letztendlichem Freispruch einer verdächtigten Person nach Ablauf eines Verfahrens blieben Ermittlungsverfahren und mediale Fahndungen für die/den Betroffene*n nicht folgenlos.

Mehr Sensibilität im Umgang mit Fällen häuslicher Gewalt

Die Begründungen der Staatsanwaltschaft Münster für die Entscheidung, die Anklage fallenzulassen, erscheinen – unter Bezugnahme auf die Informationen des WN-Artikels – wenig feinfühlig. Mögliche aggressive Übergriffe als „typisch und Bestandteil des Auflösungsprozesses“ von Beziehungen zu bezeichnen, verharmlost Gewalt und lässt sie als akzeptable situative Methode im Umgang mit Konflikten erscheinen. Und auch die Aussprache, dass ein umsichtigeres Verhalten der Beteiligten rückblickend angemessen gewesen wäre, wird der Brisanz und Aktualität von Gewaltausbrüchen im häuslichen Umfeld nicht gerecht. Mehr noch wird dem Opfer der Gewalt so eine Mitschuld zugesprochen. Ein geringes öffentliches Interesse kann darüber hinaus kaum angenommen werden vor dem Hintergrund der weltweit hohen Fallzahlen von häuslicher Gewalt, gerade in Zeiten von sozialer Isolation durch die Covid-19-Pandemie.

Fest steht: Häusliche Gewalt gegen Frauen darf nicht hingenommen werden. Sie muss leichter angezeigt werden können und stärker öffentlich thematisiert werden. Betroffene müssen den Behörden und der Justiz vertrauen können, sie müssen sich in ihrer Verletzlichkeit als ernst genommen und gesehen empfinden. (Häusliche) Gewalt gegen Frauen ist eine Form der Diskriminierung und eine Grundrechtsverletzung. Sie ist nicht nur als ein Akt physischer und/oder psychischer Gewalt, sondern auch als Schlag gegen die Würde der Frau, die Gleichheit der Geschlechter und des Zugangs zur Justiz zu bewerten. Die Wahrnehmung und Verhandlung häuslicher Gewaltfälle ist nicht bloß als Rechtsprechung über individuelle Beziehungskonflikte anzusehen. Vielmehr spiegeln sich darin gesellschaftspolitische Entwicklungen und Herausforderungen wider, die in ihrer Tragweite das gesamte System betreffen. Wenn eine Person ihrem Partner bzw. ihrer Partnerin gegenüber gewalttätig wird und damit davonkommt, ohne vom Staat zur Rechenschaft gezogen zu werden, trägt dies zur Manifestation von (Geschlechter-)Ungleichheiten und Menschenrechtsverletzungen bei. Der Schlag trifft nicht nur eine Person, sondern letzten Endes unser demokratisches Gesellschaftssystem als Ganzes.

Ein Kommentar von Lisa Soest

[1] https://www.wn.de/Muenster/4317566-Haeusliche-Gewalt-in-Muensters-Norden-Staatsanwaltschaft-stellt-Verfahren-ein-Schlag-ins-Gesicht-der-Frauen

Lisa Soest

Nach meinem Studium des Kommunikationsmanagements (BA) habe ich ein zweites Studium der Sozialen Arbeit (BA) in Enschede aufgenommen. Im Rahmen dessen mache ich ein studienbegleitendes Praktikum im Bennohaus in Münster. Meine Leidenschaften liegen in Diversity und sozialer Vielfalt, kreativem Handwerken, Musik und schlechten Wortwitzen.

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