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Meinung: Wahlen als Spiegel der politischen Kultur

Dies ist ein Beitrag zur Meinungsbildung. Er spiegelt ausschließlich die persönlichen Überlegungen des Verfassers wider und ist nicht als Parteinahme seitens MNSTR.medien in irgendeine Richtung zu verstehen.

Da haben wir also den Salat: Wahlsonntag, und die selbsternannte Alternative für Deutschland zieht mit zweistelligen Ergebnissen in drei Länderparlamente ein, wird in Sachsen-Anhalt zweitstärkste “Kraft” und demütigt beispielsweise die SPD, die sowohl in Magdeburg als auch in Stuttgart mit weniger Abgeordneten im Landtag vertreten sein wird als die neuen Rechten. Alles dreht sich um eins, nämlich die alles beherrschende “Flüchtlingsfrage” — eine Formulierung, bei der sich mir (Stichwort “Judenfrage”) von vornherein sämtliche Nackenhaare aufstellen. Aber vielleicht geht da mein historisches Feingefühl auch ein wenig zu weit…

Die Flüchtlingsfrage also. Und wie erwartet werden die Plaudertaschen aus TV und Radio (ja, das höre ich auch!) nicht müde, darüber zu spekulieren, ob denn die Taktik der CDU-Spitzenkandidatin in Rheinland-Pfalz, Julia Klöckner, wohl falsch gewesen sein mag, sich von dem geradezu menschenfreundlichen Kurs der Kanzlerin (Gutmensch Merkel?) in dieser Flüchtlingsfrage zu distanzieren. Die Wahlschlappe der Christdemokraten lege diese Vermutung ja sehr nahe. Dass der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann von Bündnis 90/Die Grünen (oho!) sich in dieser Frage hinter Merkel gestellt habe (oder wie es des geliebten Schlagzeilencharakters halber verkürzt heißt: sein “Pro-Merkel-Wahlkampf”), sei hingegen ja offensichtlich sehr gut bei den Wählern angekommen. Fast im selben Atemzug wird der Erfolg der AfD und das wackere Abschneiden der NPD in Sachsen-Anhalt (wo jetzt wohl nur noch eine “Kenia-“ oder “Afghanistan-Koalition” möglich sei, glaubt man den Hobby-Flaggenkundlern von ARD und ZDF) jedoch einer Anti-Merkel-Stimmung im Land zugerechnet.

Ja, was denn nun? Leben wir nach Jahren der politischen Apathie, der teilweise kalkuliert erscheinenden Herunterwirtschaftung unserer politischen Kultur nun urplötzlich in einem polarisierten Land, in dem es seltsamerweise auf einmal wieder Rechtsextreme gibt? Und wie viele davon sind wirklich rechts, wie viele bloße Protestwähler? Ein sehr unübersichtliches Feld, in das ich mich an dieser Stelle nicht zu weit hinein begeben möchte — wannanders aber bestimmt…

Für mich stand und steht immer fest: Politischer Diskurs tut gut. Er bringt Meinungen in die Öffentlichkeit, er schafft Raum für Kompromisse, er verhilft einer Mehrheit der Bevölkerung zum Ausdruck ihres politischen Willens und ist so gleichermaßen selbst Ausdruck des allgemeinen Gesellschaftsbildes, kurz: Er trägt zur politischen Kultur eines Landes bei. Und in diesem Land ist es nunmal inzwischen so: Streit in der Sache ist nicht erwünscht, Konsens ist der Normen-Standard. Der politische Diskurs ist keiner. Er beschränkt sich auf die Berliner Modenschauen, die im Gewand politischer Talkshows jeden Abend auf dem Bildschirm flimmern und aus denen man als Zuschauer genau so schlau rausgeht, wie man hineingezappt hat. Zum Polarisieren wird Gregor Gysi eingeladen, der regt sich immer so niedlich auf.

In eine Zeit, in der die großen politischen Fragen im Grunde ausgehandelt und geklärt schienen(!) und in der die Regierungschefin den liebevollen und erstaunlicherweise noch nicht einmal herabwürdigend gemeinten Beinamen “Mutti” trägt, in der Gesellschaft und Politik sich also endlich den lang ersehnten Zustand kompletter Entpolitisierung zu erreichen anschickten, in diese Zeit bricht nun diese düstere Wolke der Flüchtlingsfrage. Kann ja keiner ahnen, dass seit Jahren Bürgerkrieg in Syrien und streng genommen fast im gesamten Bereich des einstigen Arabischen Frühlings herrscht! (*hust* 2010 *hust*)

Wenn man es realistisch betrachtet, könnte und sollte die ganze Angelegenheit ziemlich pragmatisch und bürokratisch über die Bühne gehen, um am besten und logistisch sinnvollsten Hilfe leisten zu können. Stattdessen ist ausgerechnet dies (übrigens nicht nur in Deutschland) nun das Politikum, das die politische Apathie durchbricht. Schade nur, dass dabei der Populismus eine so gewichtige Rolle spielen muss! Und ja, das berührt wiederum stark den medialen Raum.

Seit Monaten wird weit mehr über das Politikum “Flüchtlingsfrage” als über die Flüchtlinge selbst, weit mehr als über das Schicksal Hunderttausender und die hundderttausenden einzelnen Schicksale berichtet. Gefragt wird nur danach, ob Merkel jetzt wankt, ob Seehofer den Fraktionsfrieden gefährdet, ob am deutschen Wesen nicht irgendwie Europa genesen könne. Und über die AfD wird berichtet. Wie wild. Seit Monaten. Man könnte meinen, hier sei eine Partei unabsichtlich groß geschrieben worden. Oder absichtlich, um ein bisschen mehr Drama (bitte englisch auszusprechen!) in die politische Landschaft zu bringen.

Am Wahlabend selbst werden die Vertreter der AfD dann aber, wie man es schon immer von Parteien am rechten Rand kennt, von den TV-Reportern getriezt und unterbrochen, wodurch sich ihre märtyrergleiche Opferrolle (Stichwort: Lügenpresse) weiter manifestiert. Anstatt sie einfach ausreden und damit die eigene Demontage einleiten zu lassen. Wie dem auch sei, jetzt sitzen sie da in den Abgeordnetenbänken: haufenweise AfD’ler, die schon sehr bald keinen Zweifel am Fehlen ihrer politischen Klasse lassen werden.

Im nächsten Jahr wird ein neuer Landtag in Nordrhein-Westfalen gewählt. Nur mal so angemerkt.

Jakob Töbelmann

Langjähriger Münsteraner friesischen Geblüts. Auszubildender zum Mediengestalter Bild & Ton im Bürgerhaus Bennohaus.

2 Kommentare

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  • Für mich war die ARD-Übertragung aus Sachsen-Anhalt heute interessant. AfD-Spitzenkandidat Poggenburg wurde in der Runde als einziger auf der anderen Seite des Moderators platziert und durfte/musste sich als Letzter von allen anwesenden Parteivertretern äußern. In seiner Vorstell-MAZ blieb dann vor allem eine Szene hängen, in der er des nächtens und recht einsam einen kleinen Wahlstand bepackt und ihm dabei die Flyer davonfliegen. Wenige Minuten zuvor wurde in Malu Dreyers MAZ ihr Kampf mit der Krankheit mit vielen Rollstuhl- und starken Wahlkampf-Bildern vermischt. Finde so TV-Wahlabende persönlich sehr anstrengend.

  • Ich war heute Morgen überrascht, dass Frauke Petry trotz Zusage nicht im ZDF Morgenmagazin erschienen ist. Sie hat den Termin “übersehen”, laut Pressesprecher. Das ist bezüglich dieser Thematik dann peinlich.