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Gewalt im politischen Kampf

Man könnte dem Jahr 2020 ein gewisses revolutionäres Potential unterstellen, welches in verschiedenen Dimensionen verkrustete Strukturen aufbricht und von einer gefährlichen Zerrüttung der Welt zeugt. Ansätze radikaler Gewaltfreiheit als Lösungsstrategie verfolgen sicher edle Absichten, zeigen sich jedoch dabei ignorant gegenüber ihren Vorkämpfer*innen. Was können wir daraus für die anstehenden Kämpfe lernen?

Der Mythos der Friedlichkeit

Gerne wird in der möchtegern-diversen Gesellschaft der weißen Westlichkeit der moralische Zeigefinger erhoben, wenn auch nur das Wort des politischen Kampfes fällt: Sicher, BIPoC erfahren strukturellen Rassismus, aber muss es wirklich zu gewaltsamen Aufständen kommen? Es wird dabei so getan, als wären die Privilegien der westlich-weißen Bourgeoisie gegenüber der Feudalherrschaft und ihren nachwirkenden Auswüchsen per friedlicher Meditation entstanden: Die amerikanische Revolution von 1776 war Höhepunkt des Unabhängigkeitskrieges, die französische Revolution von 1789 ist noch heute untrennbar mit der Guillotine verknüpft, die (gescheiterte) deutsche Revolution von 1848 ist auf den Barrikaden von Berlin ausgetragen worden, die russischen Revolutionen waren eine einzige Verkettung von Gewalt und Gegengewalt, die Wende zur Weimarer Republik erfolgte in den Kriegswirren des 1. Weltkriegs und brachte bürgerkriegsähnliche Zustände in die Hauptstadt, und auch die jüngste Epoche, der arabische Frühling, brachte gewaltsame Eskalation bis hin zu andauernden Bürgerkriegen in Syrien und Libyen mit sich. Trotzdem gründen das Gros der Ideale der bourgeoisen Gesellschaft unbestreitbar auf diesen Erhebungen des Volkes gegenüber der tyrannischen, (neo-)feudalen Klasse.

Wer sich beispielsweise – zurecht – darüber freut, dass die Queer-Community mittlerweile ähnliche (bourgeoise) Privilegien hat, die der Heteronormativismus ihr allzu lange vorenthielt, vergisst, dass die Stonewall-Proteste nichts von den – berechtigten und notwendigen – Feel-Good-Festivals hatten, die wir heute als Christopher Street Days kennen. Und gerade der Inter*- und Trans*-Community kommt diese Paradisierung zurecht wie Hohn vor, solange inter*- und trans*-Menschen immer noch gesellschaftlicher Suppression ausgesetzt, häufig in intersektionalen Mustern gefangen und von massiven psychischen Selbstzweifeln geplagt sind.

Die Lust als Gewalttrieb

Diese Zeilen könnte man nun verstehen als Einleitung in ein Plädoyer für einen nihilistisch-utilitaristischen Machiavellismus, dem das Ziel der gerechten Welt alle Mittel heiligt, der im Diesseits keine moralischen Werte kennt, im schlimmsten Falle sogar Gewalt als legitime Form der politischen Sublimierung von psychoaggressivem Verhalten sieht. Oft ist, gerade in der Diskussion über das linke Spektrum, der geframte Begriff des “Krawallmachers” mit all den zugehörigen Assoziationen präsent: G20 in Hamburg, Autonome und der “schwarze Block”, “Mollis” und “Die Antifa” sind zu bürgerlichen Chiffren für die linksextreme Gefahr geworden, ausgehend von labilen Langzeitstudent*innen aus neomarxistischen Untergrund-WGs, die sich ein neues Venezuela oder am liebsten gleich die UdSSR zurückwünschen. Neben dieser grotesken Vermischung untereinander zutiefst verfeindeter linker Strömungen, auf die ich hier nicht eingehen will und kann, bleibt vor allem das Bild der “Gewalt um ihrer selbst Willen”. Hierzu ist zu sagen, dass ohne Zweifel alle Strukturen, auch die noch so hierarchielos organisierte Linke, Menschen anziehen, die von diesen Strukturen profitieren wollen, die Gewalt ausüben wollen, die ihren primitiven Zwecken einer Selbstermächtigung dient; in viel stärkerem Maße als für linke Bewegungen gilt dieses Argument allerdings für staatliche Strukturen. Dennoch kann und darf Gewalt niemals die politische Botschaft verwässern, unbedacht eingesetzt oder utilitär definiert werden.

Wann ist welche Gewalt wo legitim?

Die einfache, bourgeois-kantianische Antwort ist: niemals. Nach dem kategorischen Imperativ kann ein Mensch unmöglich wollen, dass Gewalt in irgendeiner Form irgendwann zu legitimieren ist, da er ihr sonst selbst zum Opfer fallen könnte. Warum diese Argumentation deutlich zu kurz greift und als bourgeoise Privilegiensicherung zu entlarven ist, erklärt schon der Blick auf die staatlich legitimierte, monopolisierte Gewalt: Polizei und Militär sind mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet, die weitgehend auf Kontrollmechanismen verzichten. Gesellschaftliche Macht, die auf diesem Gewaltmonopol basiert, ist mittelbar die legitime Gewalt des Kollektivs gegen den Einzelnen, wie George Floyd als ein schreckliches Beispiel von vielen zeigt. Da dieses Kollektiv eine teillegitime Macht besitzt, die sich oligarchisch auf eine privilegierte Klasse beruft, übt die Macht Gewalt als primäres Mittel zur Sicherung ihrer privilegierten Klasse und ihrer damit begründeten Legitimität aus.

Ein zweiter, ebenfalls bourgeois konnotierter Gedanke, nämlich der der Notwehr, lässt sich indes als Grundlage für eine neue Gewaltkonzeption nutzen. Da die angeblich friedlich-offene Gesellschaft stetige, illegitime Gewalt ausübt (Grundlage dessen ist ein Freiheitsbegriff, der das Individuum nicht nur vor seinesgleichen, sondern auch vor kollektiver Gewalt schützt), ist diese vertragstheoretische gesellschaftliche Übereinkunft gebrochen, die überhaupt nur die Gewaltfreiheit gegenüber dem Naturzustand proklamiert hatte. Folglich lässt sich nicht länger begründen, warum marginalisierte Gruppen sich diesem Vertrag weiterhin unterzuordnen hätten. Folglich ist hier einem strikten Schema zu folgen: Zunächst muss versucht werden, ein alternatives Modell, alternative Räume, einen alternativen Gesellschaftsvertrag zu schaffen, der aus sich heraus auf Gewalt verzichtet. Sollte die privilegierte Klasse diesen mit ihren Methoden der kollektiven Gewalt zu zerschlagen versuchen – und damit  die Verfassung entweder verletzen oder als unzureichend entlarven –, degradiert sie sich selbst von der in ihrer Reforcierung über allem stehenden, guten Ordnung der Dinge zu einem politischen Akteur, einer gesellschaftlichen Möglichkeit, und so ist ihr im Wettstreit zu begegnen. Wichtig ist hierbei jedoch, dass Gewalt niemals in irgendeiner Weise legitim gegen das Individuum einsetzbar ist – genau nach diesem Schema funktioniert schließlich die zu überwindende Kollektivgewalt der privilegierten Bourgeoisie. Nur die Institutionen der kollektiven Oppression sind in kreativer Gewalt zu überkommen, niemals das Individuum – genau dies lässt sich rückblickend als zentraler Fehler des sogenannten Realsozialismus identifizieren, weshalb dieser sich notwendigerweise in eine tyrannische Schreckensherrschaft umwandelte, die den gleichen kollektivgewaltlichen Prinzipien gehorchte wie die verhasste bourgeoise Gesellschaft. Das Individuum ist in seinem Recht, keine Gewalt zu erfahren, unantastbar; gewalttätige Institutionen sind es nicht. Antiinstitutionelle Gewalt ist hierbei sämtliche politische Praxis, die eine Institution an ihrer Wirkmacht hindert, sich dieser stets bewusst ist und folglich nicht selbst zu institutioneller, d.h. gegen das Uninstitutionalisierte gerichteter Gewalt werden darf.

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Beitragsbild: Von FEDRA Studio from Milan, Italy – NO EXPO, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=39935533

Paul Oppermann

Wenn durch das Blut genug Mate fließt, haut Paul gerne seine philosophische Sicht auf die Welt in die Tasten. Nebenbei arbeitet er an der Weltrevolution und geht, wenn Zeit bleibt, zur Schule.

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Grüße aus dem Flammenmeer

Ob Klimapolitik, Kapitalismus oder Kriegstreiberei – viel Stoff für die Kolumne von Philipp Schröder und Paul Oppermann. Über die Themen, die sie gerade bewegen, schreiben die beiden Schüler in dieser Kolumnenreihe auf ostviertel.ms