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Die Mischlinge des Kapitalismus

Als ich vor zwei Jahren durch Südafrika gereist bin, übernachtete ich zweimal bei Gerald. Er hatte ein Jahr zuvor, im Alter von 50 Jahren, seinen Beruf als Richter an den Nagel gehängt, weil er es satt hatte, jeden Tag junge Menschen ins Gefängnis zu stecken. „Die kommen da nicht als bessere Menschen raus und ich will daran nicht mehr beteiligt sein“, war seine Begründung. Stattdessen vermietete er nun Zimmer an Student*innen der örtlichen Universität, züchtete in seinem Garten Marihuana, ging mit Freund*innen golfen und hing ansonsten viel im Bademantel bekleidet in seinem Wohnzimmer ab.

In seinem Bücherregal fand ich eine Biografie über Nelson Mandela. Ich hatte am ersten Tag in Südafrika ein sehr irritierendes Gespräch mit dem schwarzen Fahrer gehabt, der mich vom Flughafen abgeholt hatte. Ich konnte den Kommentar, „Sie hätten den verfluchten Mandela niemals aus dem Gefängnis lassen sollen“, nicht einordnen, wo doch Mandela allgemein als großer Held gefeiert wurde. Ich erzählte Gerald von dieser Begegnung und er schüttelte lächelnd den Kopf. „Das war ein Coloured“, sagte er und dann erklärte er mir, dass während der Apartheid ein systematisches Brainwashing stattgefunden hatte bei der so bezeichneten Bevölkerungsgruppe.

Als „Coloured“ wurden alle „Mischlinge“ bezeichnet, die nicht „rein-europäisch“ und nicht „rein-schwarz“ waren. Als vierte Hauptgruppe in Südafrika gab es dann noch Einwohner*innen mit indischer Herkunft, die aus dieser Separation herausfielen. Um sich zahlenmäßig einen Puffer zu verschaffen gegenüber der schwarzen Hauptbevölkerung, wurde den „Coloured“ erzählt, dass sie zwar „nicht so gut“ seien wie Weiße, aber viel mehr wert als Schwarze. Sie bekamen bessere Jobs, hatten mehr Rechte und durften wählen. So hatte die „weiße Herrscherklasse“ eine „Handlanger-Rasse“ etabliert, die dabei half, die schwarze Bevölkerung zu unterdrücken. Gerald gehörte offiziell selber zu dieser Gruppe, war aber von der ganzen Thematik einfach nur angewidert. „Denen wurde so sehr der Kopf gewaschen und eingeredet, dass sie etwas Besseres wären, sodass es selbst 30 Jahre später noch ihre feste Überzeugung ist.“

Als ich vor kurzem einen Auftritt von Georg Schramm beim Politischen Aschermittwoch 2020 auf YouTube sah und dort Warren Buffett zitiert wurde, der auf die Frage, wann man wirklich reich sei, geantwortet hat, „wenn Sie beim Geld zählen eine Million übersehen und es nicht merken“, fiel mir die Erklärung von Gerald wieder ein, obwohl es nicht um Apartheid ging.

Durch die kapitalistische Denkweise von „haste was, dann biste was“, etabliert die Schicht der Super-Reichen eine Pufferschicht von Menschen, die glauben, hierarchisch über anderen zu stehen, weil es ihnen finanziell gut geht. Dem reichsten 1 Prozent der Deutschen gehören ein Drittel des Vermögens, den reichsten 10 Prozent gehören 2/3 des Vermögens und die restlichen 90 Prozent teilen sich das letzte Drittel. Auf die Zahlen der Welt bezogen besitzt das reichste 1 % sogar über 50 % des Vermögens und 90 % der Weltbevölkerung teilen sich 11 % vom Kuchen.

Trotz dieser extremen Ungleichheit ist es in den meisten Demokratien nicht möglich, eine Mehrheit bei Wahlen zu erhalten, die sich für eine gleichmäßigere Verteilung des Vermögens einsetzt, weil der Kapitalismus ein ähnliches Brainwashing betrieben hat wie die Apartheid.

Wenn die Themen Erbschaftssteuer oder Vermögensbesteuerung aufkommen, zuckt ein großer Teil der Bevölkerung zusammen, weil sie sich Sorgen um ihr eigenes Portemonnaie machen. Dabei wäre eine Steuer von 5 % auf alle privaten Vermögen von über einer Million Euro doch keine wirkliche Belastung für diese Personen. Ob man nun eine Million auf seinen Sparkonten hat oder 950.000 Euro kann im realen Leben doch keine nachvollziehbaren Einschränkungen mit sich bringen.

Rechnen Sie sich doch mal selber aus, wie viel Geld Sie pro Jahr übrig haben müssten, um nach Abzug Ihrer laufenden Kosten eine Million sparen zu können. Ich helfe Ihnen gerne mit einem einfachen Beispiel: Wenn Sie nach 50 Jahren eine Million zusammen haben wollen, dann müssten Sie pro Jahr 20.000 Euro übrig haben. Wann hatten Sie das letzte Mal 20.000 Euro übrig?

Ein Großteil der Menschen lässt sich systematisch zum Machterhalt einer Elite einspannen, wie es die Bevölkerungsschicht der „Coloured“ getan hat. Wenn Sie also nicht regelmäßig eine Million beim Geldzählen übersehen oder Sie nicht wissen, was Sie mit den 20.000 Euro pro Jahr anfangen sollen, die Sie nicht brauchen, dann stellen Sie sich doch mal vor, was man mit den weit über 200 Milliarden Euro zusätzlichen Steuer-Einnahmen, die durch eine Fünf-Prozent-Vermögenssteuer zusammenkommen könnten, alles verbessern könnte in unserem Land.

Christian Hicking

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